Inklusives Yoga für Menschen mit Behinderung

Von Dana Pukowski

Die Weltgesundheitsorganisation hat Stress zu einer der gefährlichsten Seuchen des 21. Jahrhunderts für uns Menschen erklärt. Und jetzt stell dir unser tägliches Programm für Menschen mit Behinderungen vor, quasi unser Alltagswahnsinn plus Hindernislauf. Barrieren überall, sichtbar und unsichtbar. Menschen ohne Einschränkungen ist das selten bewusst. Aber Menschen mit Behinderungen erleben noch mehr Stress im Alltag. 

Yoga ist kein Allheilmittel, aber die mannigfaltigen Wirkungen einer regelmäßigen Yoga-Praxis sind längst empirisch bewiesen. Yoga kann ganz konkret Menschen mit Behinderungen unterstützen, alltägliche Belastungen besser zu bewältigen. Während ein Mensch sich in der Kindhaltung (Balasana) beruhigt, kann ein anderer mit gezielten Atemübungen eine Welle der Angst abbremsen. Yoga hat viele Tools, um uns alle in unserer Einzigartigkeit zu unterstützen. 

Was Yoga ist, erfährst du in diesem Artikel.

Warum ist Yoga für Menschen mit Behinderung besonders wichtig?

Menschen mit körperlichen oder neurologischen Einschränkungen sind täglich enormem Stress ausgeliefert. Sie kämpfen um Rechte und Aufklärung, wühlen sich durch den bürokratischen Formular-Dschungel und fühlen sich alleingelassen. Ganz zu schweigen von Barrierefreiheit in der Mobilität oder am Arbeitsmarkt. Das gesellschaftliche Miteinander zeigt deutliche Grenzen auf und hinterlässt ein schales Gefühl der Ausgrenzung. Es ist ein täglicher Kampf um Autonomie und Akzeptanz. 

Betrachten wir Yoga ohne den Hochglanz-Bonus, den Handstand-Circus und den Flow-Firlefanz, bleibt das übrig, was es ist: Eine Lebensphilosophie für die Einzelne oder den Einzelnen, ungeachtet ihrer oder seiner körperlichen Möglichkeiten. Yoga ist mehr als nur Bewegung. Yoga lehrt uns den Fokus auf die Atmung, unsere Empfindungen im eigenen Körper wahrzunehmen und katapultiert uns direkt in den gegenwärtigen Moment. 

Mit Yoga erfahren wir ganz konkret, wie negative Gedankenmuster unsere Sichtweise auf das Leben beeinflussen, wie Angst und Enttäuschung unsere eigene Vitalität und Lebensfreude einschränken. Dafür braucht es keinen Handstand, kein großes Rad und schon gar kein Vinyasa. Schon kleine Bewegungen wie das Beobachten deiner Atemwellen durch den gesamten Körper verändern das Bewusstsein, die Beziehung und auch die Zufriedenheit zum eigenen Körper.

Nicht jeder Mensch kann seine Körperposition beliebig verändern. Schon kleine Bewegungserfahrungen können sich wie eine Erweiterung anfühlen. Zu lernen, dass die eigene Atmung kontrolliert werden kann und die Atmung selbst die eigenen Gedanken beeinflusst, ist nicht nur für Menschen mit Behinderung ein Türöffner zu mehr Lebensfreude.


YogaEasy Academy-Kurs: Pranayama mit Anna Trökes


Yoga als Therapie

Yoga mit Behinderung Rollstuhl Asanas

Meditation, Atmung und körperliche Bewegung werden längst als therapeutisches Instrument in vielen Bereichen eingesetzt. Yoga hilft, motorische Fähigkeiten, Aufmerksamkeit und Konzentration, aber auch das mentale und emotionale Wohlbefinden zu verbessern. 

Menschen mit körperlichen Behinderungen, aber auch Schmerz- oder Traumapatient:innen haben eine eingeschränkte Körperwahrnehmung. Bestimmte Körperregionen sind nicht spürbar, nicht ansteuerbar oder räumlich anderswo verortet. Benutzen wir Körperteile z.B. nicht oder nicht in ihrem vollen Bewegungsradius, schaltet unser Gehirn den Zugang einfach ab. Dieselbe (Schutz-)Reaktion zeigt unser Gehirn bei Schmerzen oder traumatischen Erfahrungen. 

Wir alle haben übrigens diese Körperteile. Ein Großteil der Menschen in der westlichen Ohrensessel-Welt muss sich den Zugang zu feinmotorischen Bewegungen erst wieder freischalten. Oder kannst du jeden einzelnen Zeh autonom bewegen? Ich arbeite dran ;)

Wir halten fest: Es ist entscheidend, die Bewegungen zu erhalten, die möglich sind. Mobilität bestimmt unsere Autonomie im Alltag. Dafür braucht es nicht nur gute Yogalehrer:innen und Therapeut:innen, sondern auch Disziplin, täglich zu üben. Aber jetzt mal ehrlich, wie können Asanas für alle Menschen gleich sein?

In diesem Artikel spricht Diplom-Psychologin und Yogalehrerin Eva Weinmann über traumasensibles Yoga und warum es sich so gut eignet, Sicherheit im eigenen Körper wiederzufinden.

Asanas: Flexibel, anpassbar und austauschbar

Asanas sind heutzutage ein unumstößliches Element der Yoga-Praxis. Die Vielfalt der Körperübungen ist genauso grenzenlos wie die Individualität unserer Körper. Nicht selten beginnen Menschen Yoga mit der Illusion, sich den Formen unterzuordnen. Dabei ist es unsere Aufgabe zu lernen, unseren Körper zu spüren und die Asana nach unserem Gusto zu verändern. Dabei geht es nicht nur um unsere mentale und körperliche Tagesform, sondern auch um unsere Limitierungen. 

Von Natur aus sind Körper enorm verschieden. Der individuelle Knochenbau gibt Gelenkstellungen vor, die sich von Mensch zu Mensch stark unterscheiden. Hinzu kommen Körperformen und Konstitution, aber auch Verletzungen, chronische Schmerzen oder körperliche Einschränkungen. Asanas können heruntergebrochen, verändert, modifiziert und vereinfacht werden. Menschen können Yoga im Sitzen auf einem Stuhl (siehe Videotipps am Ende der Seite) praktizieren, vielleicht weil der Kreislauf nicht mitspielt, orthopädische Beschwerden zunehmen oder weil ein Mensch im Rollstuhl sitzt. Oft verändert sich nur die äußerliche Form, aber nicht der Benefit. 

Letztlich ist es egal, aus welchem Grund du einzigartig bist, wir sind es alle. Die Crux ist, das richtige, passende Angebot zu finden. Für die einen ist Kundalini-Yoga das Yoga des Bewusstseins und für die anderen ist es Yin oder Hatha Yoga mit viel Zeit zum Lernen und Spüren. Was beim Einstieg in einen Gruppenkurs immer helfen kann, sind vorweg Einzelstunden. So kannst du Vertrauen aufbauen, Fragen stellen und in die Kreativität der körperlichen Praxis eintauchen. Eine erfahrene Lehrerin kann dich dann in einen Gruppenkurs integrieren. Lass dich in die Welt des Yoga-Zubehörs einführen und Yoga als Weg zur Einheit begreifen, ohne dass du dich selbst als Hindernis verstehst. Das Hindernis ist oft nur in deinem Kopf, denn Yoga ist dafür gemacht, sich dir selbst anzupassen. 

Yoga-Szene: Der Widerspruch zwischen Philosophie und Wirklichkeit

Yoga selbst ist barrierefrei und für alle da. Leere Floskel, inspirierende Vision oder lebendige Philosophie? Vorweg: Unsere Yoga-Bubble ist ein wundervoller Zufluchtsort mit unglaublich schönen und vielseitigen Angeboten. Viele Yogastudios wurden von Menschen geschaffen, die eine inspirierende Vision haben und diese mit der Welt teilen. 

Aber aus der Sicht eines Menschen mit körperlichen Einschränkungen betrachtet, hapert es schon an der räumlichen Barrierefreiheit. Egal ob Eingänge, Kursräume oder Umkleiden, es warten viele Hindernisse. Abgesehen davon, geht dann das Dilemma eigentlich erst richtig los. Die meisten Kurse sind offen, die Pausen zwischen den Kursen sportlich und Yogalehrer:innen haben selten Zeit, sich auf Bedürfnisse der Einzelnen einzustellen. 
Aber damit nicht genug. Die Türpolitik von Yogastudios ist zwar unsichtbar, aber hart. Einlass gewährt wird weißen, schlanken, privilegierten Frauen, die fitness-orientiert praktizieren und Selfcare-motiviert sind. Der große Rest scheitert häufig an einer Wand aus Hemmungen und Scham. Unsere Yoga-Szene ist kurz davor der Berliner Clubszene alle Ehre zu machen, wenn wir nicht anfangen, Diskriminierung offen anzusprechen. 

Interview mit Mechthild Kreuser von INKLUSIVE ACHTSAMKEIT

Mechthild ist 35 Jahre alt und lebt in Köln. Sie hat seit ihrer Geburt eine Körperbehinderung und ist seit ihrem 8. Lebensjahr Rollifahrerin. Sie ist nicht nur MBSR-Trainerin und Yogalehrerin, Mechthild Kreuser spricht in ihrem Podcast regelmäßig über Achtsamkeit & Inklusion. Wir wollen wissen, wie zugänglich Yoga für Menschen mit Behinderungen und wie offen unsere Yoga-Bubble wirklich ist. 

Mechthild Kreuser Achtsamkeit und Inklusion

YogaEasy: Liebe Mechthild, jetzt mal „Buddha bei die Fische“, es gibt keinen Grund zu applaudieren. Yoga ist für alle da, aber unsere Yoga-Bubble ist mehr als nur ein paar Atemzüge von Inklusion entfernt. Ganz ehrlich, wie findest du das heutige Yoga-Angebot? 

Mechthild: Viele Yoga-Angebote sind sehr auf Körper und Fitness ausgerichtet und schließen damit Leute aus, deren Körper nicht so gut in das schlanke und flexible Bild vom westlichen Yoga-Praktizierenden passen oder die das Gefühl haben, das nicht zu erfüllen. Es gibt natürlich auch andere Angebote, aber gerade durch Social Media entsteht das Bild, dass es im Yoga vor allem um die körperlichen Aspekte geht. 

Yogastudios sind Zufluchtsorte. Wie willkommen und gesehen fühlst du dich in einem Yogastudio? 

Ehrlich gesagt, nicht sehr willkommen. Ein Grund ist, dass es bei vielen Yogastudios schon am Eingang für mich schwierig wird, wenn es Treppen gibt oder sehr eng im Studio ist. Selbst in Köln kenne ich nur sehr wenige Studios, die einen ebenerdigen Eingang oder eine barrierefreie Toilette haben.
Wenn ich dann im Studio angekommen bin, fühle ich mich oft erstmal komisch, wenn ich die einzige Person mit einer sichtbaren Behinderung bin. Viele Yogalehrer:innen fühlen sich damit unsicher, weil sie nicht genau wissen, ob sie dann etwas anderes anleiten sollen oder wie ich die Übungen gut mitmachen kann. 

Online-Yoga ermöglicht eine Teilnahme endlich von Zuhause aus. Hat die Online-Yogawelt wirklich etwas für Menschen mit Behinderung verändert?

Online-Yoga und auch Yoga-Videos, wie bei YogaEasy, können auf jeden Fall dazu beitragen, dass auch Menschen mit Behinderung einen Zugang zu Yoga-Angeboten finden, da sie im eigenen Tempo praktizieren können. Hier ist es dann wichtig, dass auch die Yogalehrer:innen in den Online-Angeboten verschiedene Möglichkeiten für unterschiedliche Menschen anbieten. 

Inklusion ist ein Prozess. Wie können Yogastudios / Online-Yogastudios ganz konkret Barrieren abbauen und aktiv dazu beitragen, Yoga für alle zugänglich zu machen? 

Ich wünsche mir mehr Klarheit in der Kommunikation über die Barrierefreiheit oder besser gesagt Barrierearmut von Angeboten. Es gibt viele verschiedene Arten von Behinderungen und natürlich ist es wichtig, die baulichen Barrieren zu benennen. Aber genauso wichtig ist es, das Angebot zu beschreiben, zum Beispiel welchen Fokus du in deinen Stunden setzt. Auch im Marketing kannst du ausdrücken, dass dein Angebot für Menschen mit Behinderung zugänglich ist. 

Unsere Vision ist es, Yoga in die Welt zu tragen und für alle Menschen erreichbar zu machen. Was wünscht du dir explizit von YogaEasy?

Von YogaEasy wünsche ich mir, dass es auf der Plattform Yogalehrer:innen mit Behinderung gibt, die Yoga anleiten. Yoga von einer behinderten Person angeleitet ist nicht nur etwas für andere behinderte Personen, sondern für alle Menschen. Jeder kann etwas Neues für sich mitnehmen, seinen eigenen Körper und seine eigenen Grenzen wieder anders spüren. 

Du inspirierst deine Community rund um Stressbewältigung, Achtsamkeit und Selbstfürsorge. Was ist dein Rat an Menschen mit Behinderung, die Yoga ausprobieren möchten?

Probiere es einfach mal aus. Du kannst Yoga so machen, wie es für deinen Körper möglich ist, sei es auf dem Stuhl, der Matte oder im Bett. Denke auch daran, dass Yoga viel mehr ist als nur die Körperübungen. Es gibt so viele coole Menschen mit Behinderung, die zeigen, dass Yoga auch mit unterschiedlichen Behinderungen möglich ist. Schau einfach mal auf Social Media bei anderen Accounts vorbei, wie Rodrigo (@allihopayoga) oder Lemonia (@lemamyoga).

Was ist für dich der größte Benefit für Menschen mit Behinderungen, wenn sie Yoga, Achtsamkeit oder Meditation in ihren Alltag integrieren?

Yoga, Meditation und andere Achtsamkeitsangebote können Menschen mit Behinderung unter anderen dabei unterstützen, den eigenen Körper besser wahrzunehmen, die eigene Situation mehr zu akzeptieren und mit körperlichen Schmerzen besser umzugehen. Natürlich bedeutet das nicht, dass Yoga als Heilmittel gegen eine Behinderung oder chronische Erkrankung wirkt, wie es leider oft in Social Media suggeriert wird. Aber eine regelmäßige Selbstfürsorge-Praxis mit Achtsamkeit, Yoga und Meditation kann uns dabei unterstützen, den Stress besser zu bewältigen, der im Alltag als behinderte oder chronisch kranke Person oft verstärkt ist. Stress bedeuten immer auch diskriminierende Erfahrungen oder Phasen, in denen wir einfach wenig Energie haben. 

Teile mit uns deine Empfehlungen für spezielle Angebote rund um Yoga, Achtsamkeit und Meditation für Menschen mit Behinderungen:

  • Als Yogalehrer:in: Bleib offen für Menschen, die mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung in deine Klassen kommen. Meistens kennen behinderte Menschen ihren Körper besser als nicht-behinderte Menschen. 
  • Als Praktizierende mit Behinderung oder mit einer chronischen Erkrankung: Recherchiere unbedingt, welche Angebote es in deiner Umgebung oder auch online gibt, die von anderen behinderten Menschen erstellt wurden.
  • Als Praktizierende ohne Behinderung: Auch für dich kann es interessant sein, mal mit einer Yogalehrer:in mit Behinderung zu üben. Vielleicht lernst du deinen Körper und deinen Atem so noch einmal ganz anders kennen. 

Gibt es noch irgendetwas, was du sagen möchtest, was dir wichtig erscheint?

Ich finde es wichtig, dass wir unsere Unterschiede und Gemeinsamkeiten achtsam wahrnehmen und dies auch immer wieder üben, damit wir weiterhin gemeinsam zu einer offenen, inklusiven und weltoffenen Gesellschaft beitragen können. Unsere Achtsamkeits- und Yoga-Praxis kann uns hierbei unterstützen. Gerade in den Zeiten, in denen wir momentan leben, finde ich es wichtig, immer wieder zu bemerken, dass es zwar viele Unterschiede, aber auch viele Gemeinsamkeiten von Menschen gibt und dass es wichtig ist, gemeinsam für eine diverse und inklusive Gesellschaft zu arbeiten. Selbstfürsorge kann uns dabei unterstützen, wieder Kraft für den Alltag zu finden.


Wir sagen danke, Mechthild Kreuser, für deinen Input. Wir nehmen uns dein Feedback zu Herzen. Body-Shaming, Ableismus, Leistungsdruck und Rassismus haben keinen Platz in (Online-)Yogastudios. Lasst es uns zur Aufgabe machen, nicht nur zu predigen, sondern zu leben und das Mitgefühl in der Yogaszene zu stärken. 


Teste YogaEasy jetzt 7 Tage gratis

Dana Pukowski
Dana Pukowski

Dana Pukowski ist Yogalehrerin, Weltenbummlerin, Projektmanagerin und war 6 Jahre Teil der YogaEasy Familie. Sie unterrichtet Meditation, Vinyasa und Yin Yoga seit mehr als 7 Jahren in Hamburg. Als Unternehmensberaterin fand sie im Yoga das wieder, was sie heute in ihren Yogastunden und Retreats teilt, den Mut zur Pause, das Nichtstun als kreative unerschöpfliche Quelle für Inspiration und Visionen. Dana bummelt um die Welt, liebt Herausforderungen als Projektmanagerin und bereichert unser YogaMag auch heute noch mit ihren yogischen Wortzaubereien.