
Mrigasana: Das sanfte Reh (mit Tiefgang)
Das scheue Reh wird eher selten gesichtet in Yogastunden. Im Vergleich zur omnipräsenten Taube oder dem beliebten Schmetterling kennen wenige diese sanfte und doch wirkungsvolle Asana für die Hüfte.
Der Sanskrit-Begriff „Mriga” bedeutet auf Deutsch „Hirsch” oder „Reh” und auf Englisch „Deer“. Und genau wie diese faszinierenden Wildtiere hat Mrigasana viele verschiedene Facetten. Je nachdem, ob du das Reh sitzend, liegend, entspannend, aktivierend, drehend oder dynamisch übst, entfaltet Mrigasana ganz unterschiedliche Wirkungen.
Am bekanntesten ist Mrigasana als Yin-Übung. Wir zeigen dir in diesem Artikel aber alle Varianten, mit und ohne Hilfsmittel.
Das sanfte Reh: Mrigasana im Yin Yoga
Beim Yin-Reh ist die physische Zielgruppe die Gluteus-Gruppe. Dafür benötigst du eine Außenrotation und Flexion (Beugung) im Hüftgelenk. Ziel ist es, eine sanfte bis moderate Dehnung in der äußeren Gesäßhälfte zu erreichen. Während du ohne Muskelanspannung 3 bis 5 Minuten im Reh dahinschmilzt, erreichst du nicht nur eine Stimulation deines tiefen Fasziengewebes, sondern beruhigst auch dein Nervensystem. Deswegen ist das Reh für mich persönlich wie Erholungsurlaub für die Hüfte.
Mrigasana ist eine Vorbeuge im Sitzen, je nach Variante mit Rotation in deiner Wirbelsäule. Das Level ist radikal inklusiv: Jedermann, Jederfrau und Jederkörper. Deswegen erfährst du in diesem Artikel auch, warum im Yoga die Funktion immer vor Ästhetik kommt und warum Migrasana für alle Körper funktioniert. Schnapp dir Bolster, Kissen, Decken und Blöcke (die bekommst du im YogaEasy Shop). Los geht’s!
Anleitung: So gehst du in das Yin-Reh
- Setze dich aufrecht hin und stelle deine Füße gut hüftweit vor dir ab (etwa drei Handbreit von deinem Gesäß entfernt).
- Verlagere dein Körpergewicht auf die rechte Gesäßhälfte.
- Lege dein rechtes Schienbein parallel zum kurzen Mattenende vor dir ab. Traditionell wird ein 90-Grad-Winkel zwischen Ober- und Unterschenkel angestrebt. Du weißt aber am besten, welcher Winkel dir guttut. Erforsche verschiedene Gelenkwinkel bis du die Position gefunden hast, die heute zu dir passt.
- Lege nun dein linkes Bein so ab, dass der linke Oberschenkel ebenfalls ungefähr parallel zum vorderen Mattenrad liegt und dein Fuß nach hinten zeigt (s. Titelbild dieses Artikels). Auch hier wird klassisch ein 90-Grad-Winkel angestrebt und auch hier gilt: Du entscheidest, in welcher Position du die heilsame Wirkung des Rehs spürst. Wichtig ist, dass du dich gut aufrecht halten kannst, du also weder den unteren Rücken belastest noch zu schief sitzt. Vielleicht hilft dir dabei eine Decke unter dem Gesäß.
- Vielleicht reicht dir das schon. Dann finde eine entspannende Armhaltung und bleibe hier. Wenn es sich aber gut anfühlt, kannst du dich jetzt über dein rechtes Bein verneigen, bis du eine sanfte bis moderate Dehnung in deiner äußeren rechten Gesäßhälfte (Gluteus-Gruppe) spürst.
- Finde die richtige Tiefe. Nicht zu tief und nicht zu hoch. Deine goldene Mitte. Stell dir folgende Frage: Könntest du in dieser Haltung ganz entspannt 20 Minuten bleiben? Nutze Hilfsmittel, um freie Gelenke zu unterfüttern und deinen Körper ablegen und entspannen zu können: Ein Bolster, eine dicke gerollte Decke oder ein Kissen – was auch immer du zur Verfügung hast.
- Finde eine Armhaltung, die dir Lockerheit von den Schultern abwärts schenkt. Unsere Hände greifen ganz unbewusst nach Körperteilen und der Welt. Halte nicht fest, sondern erlaube dir, immer mehr loszulassen, still zu werden und jeden einzelnen Muskel in deinem Körper zu entspannen.
- Richte deinen Fokus auf deine rechte Gesäßhälfte. Verweile hier mit all deiner Konzentration und beobachte die Veränderung des Gewebes.
- Bleibe 3 bis 5 Minuten. Richte dich achtsam auf, ohne den Kontakt zu dir (und deiner Core-Muskulatur) zu verlieren.
- Spüre in der Rückenlage nach (das nennt sich im Yin Yoga „Yin Rebound”), bevor du die Asana auf der anderen Seite übst.
Um deine optimale Ausrichtung zu finden, kannst du Folgendes ausprobieren:
- Bring deinen vorderen Oberschenkel bzw. dein Knie weiter nach außen oder innen.
- Öffne deinen vorderen Unterschenkel oder verkleinere den Winkel im Knie.
- Erlaube deinem hinteren Bein einen Gelenkwinkel, der für dich funktioniert.
- Bringe deinen Oberkörper in einen Twist.
- Erlaube deinem Becken, die parallele Ausrichtung zu verlassen, um Kompressionspunkte zu umgehen.

Das gedrehte Reh
Eine wunderbare und sehr beliebte Variation ist das gedrehte Reh. Hier geht es weniger um den Gluteus und vielmehr um die herrliche Öffnung auf der langen Seite des Oberkörpers:
- Wenn du die Schritte 1 bis 4 der Anleitung (s.o.) befolgt hast, drehe dich nach rechts in Richtung des Oberschenkels des vorderen Beins.
- Wenn das gut ist für dich, verweile hier. Wenn es sich gut anfühlt, lehne dich jetzt wieder achtsam nach vorn und lege dich auf einem Bolster, Kissen oder einer gerollten Decke ab.
- Gib dein Gewicht an die Hilfsmittel ab, lass alles los und bleibe einige Minuten in der Haltung.
- Wiederhole nach einer Nachspür-Pause die Übung auf der anderen Seite.
Erinnerung: Es gibt nicht nur ein Reh, sondern unendlich viele Erscheinungsformen des Rehs, die alle einzigartig und genau deswegen perfekt sind. Finde deine Form, die dich umarmt und nicht einengt.
Die Wirkungen von Mrigasana
Unser Yin-Reh aktiviert im zweifachen Sinne unseren Chill-Modus, unseren Parasympathikus. Zum einen durch die Vorbeuge und zum anderen durch den Yin-Vibe. Obwohl es zu innerer Unruhe kommen kann, wenn du mit deiner Hüfte arbeitest, wird dein Nervensystem im Reh fast automatisch in den Ruhe- und Erholungsmodus versetzt. Dein ganzes System macht Urlaub, auch wenn du selbst noch am Flughafen sitzt.
Physische Wirkungen
- verbessert die Mobilität in deiner Hüfte
- mobilisiert deine Knie- und Hüftgelenke
- fördert die Beweglichkeit deiner Wirbelsäule (je nach Variante)
- löst Spannungen im unteren Rücken
- stimuliert das tiefe Fasziengewebe rund um die Gluteus-Gruppe (z.B. Kapseln, Bänder, Sehnen, Muskeln deiner Hüftgelenke) und darüber hinaus
- fördert die Verdauung und einen tiefen und ruhigen Atem
- verlangsamt deinen Herzschlag
Psychische Wirkungen
- schult deine Körperwahrnehmung – du lernst insbesondere deine persönlichen Grenzen und Bedürfnisse besser wahrzunehmen
- beruhigt und klärt deinen Geist
- fördert die Qualität des Loslassens in deinem Leben
- lehrt dich, mit Sanftheit ans Ziel zu kommen (weniger müssen, mehr zulassen)
- schenkt dir Raum für Rückzug und Verbindung zu dir selbst
- ermöglicht dir einen Zugang zu deinen Gefühlen und eröffnet die Möglichkeit, emotionale Blockaden aufzulösen
Energetische Wirkung
Das Reh aktiviert dein Sakralchakra (Svadhisthana-Chakra), weil es den unteren Rücken und deinen Hüftbereich stimuliert, wo dein Sakralchakra physisch verankert ist.

Kontraindikationen: Wann ist Vorsicht geboten?
- bei Kniebeschwerden oder -verletzungen (wie z.B. Arthritis, Meniskusverletzungen)
- bei Beschwerden in der Hüfte (wie z.B. Arthrose)
- bei Ischiasbeschwerden und Bandscheibenvorfällen
- bei Schwangerschaft (insbesondere im 3. Trimester)
Auch wenn das Reh zu der sanften Sorte Asana gehört, es bleibt ein Hüftöffner mit geschlossener kinetischer Kette. Klingt kompliziert, bedeutet aber nur, dass dein Fuß (das distale Ende deines Körpers) in Mrigrasana fixiert ist. Alles schick, solange du gesund ausgerichtet bist. Wenn du mit Gewalt arbeitest, muss dein Knie deinen Ego-Trip ausbaden. Und Knie können wirklich nachtragend sein. Zieh deinen Fuß näher an deine Leiste und nutze Hilfsmittel. Und auch sonst bleibt es ein Hüftöffner, d.h. eine externe Rotation in deiner Hüfte, die bei Beschwerden kontraindiziert sein kann.
Funktion vor Ästhetik: Worum geht’s wirklich?
Unsere Körper sind völlig individuell. Das fängt bereits beim Knochenbau an. Dieser bestimmt deine Gelenkwinkel – deshalb sind die auch mit viel Wollen und Tun nicht variierbar. Aber auch alles andere, nicht nur physisch, sondern mental, emotional und energetisch, ist einzigartig. Eine Form für alle, das gibt es nicht. Deine Aufgabe im Yoga ist es, die Form der Asana an deinen Körper und deine Stimmung anzupassen. Nicht andersherum.
Kleiner Exkurs: Vielleicht hast du schon mal von Kompressionspunkten gehört. Das sind Stellen, an denen die Bewegung in deinem Körper durch Kontakt von Knochen auf Knochen oder wenn sich ganz einfach Körperteile berühren, begrenzt oder gestoppt wird. Diese individuellen Grenzen können durch Variationen oder alternative Haltungen umgangen werden.
Ausschlaggebend ist die Funktion einer Asana, also was eine Asana bewirkt und nicht, wie sie aussieht. Die zentrale Frage ist: Worum geht’s in der Haltung? Was ist das Ziel der Asana? Geht es darum, eine Muskelgruppe zu aktivieren, zu stimulieren oder zu entspannen? Oder ist das Ziel, deinen ganzen Körper wahrzunehmen?
Yogastudios verzichten bewusst auf Spiegel. Das ist keine Schikane und auch kein achtsamer Hinterhalt. Im Yoga wollen wir uns innerlich ausrichten, um uns äußerlich aufzurichten. Leider ist der durchschnittliche Namasté-Feed auf Instagram voll von unerreichbarer Schönheit und feenhafter Grazilität. Nichts gegen Ästhetik, aber im Yoga ist sie oft irreführend. Die Wahrheit ist: Mit unauffälligen Asanas kannst du oft viel mehr erreichen als mit spektakulärer Akrobatik.
Mrigasana ist eine Yoga-Haltung mit geringem Risiko und hohem Nutzen. Sie ist wenig „instagrammable“, dafür aber wahrhaftig. Ihre Funktion ist die Stimulation der Gluteus-Gruppe. That’s it, und solange du diese Funktion erreichst, kannst du wirklich alles verändern.
Wie du dein Yin-Reh anpasst – Variationen für Mrigasana
Wenn ich in meinen Yogastunden Hilfsmittel empfehle, fühlt sich das manchmal an, als würde ich Brokkoli auf einer Kindergeburtstagsparty anpreisen. Alle wissen, es wäre sinnvoll – aber niemand hat Bock drauf. Dabei machen Yoga-Hilfsmittel Asanas zugänglicher, präziser und intensiver. Ich verspreche dir, wenn du dein Reh mithilfe von Hilfsmitteln auf Wolken bettest, ist das ein Gamechanger. Und nicht nur das: Mit Hilfsmitteln kannst du bestimmte Gelenkwinkel erst ermöglichen. Hier ein paar Optionen, in deinem Hirsch mit Props zu arbeiten:
- Gelenkwinkel verändern: Kippst du mit deinem Oberkörper nach rechts, bring eine gefaltete Decke oder ein Bolster längs unter deinen rechten Oberschenkel (Gesäß bis Knie).
- Finde deine individuelle Tiefe: Nutze ein Bolster quer über deinem Oberschenkel oder längs auf dem Boden, um deinen Oberkörper/Kopf abzulegen. Es genügt eine moderate Stimulation – nicht zu tief, nicht zu hoch.
- Schütze dein Knie: Hat dein vorderes Knie keinen Kontakt zum Boden, nutze eine Decke oder ein Bolster unter deinem Knie. Nur dann darfst du sorglos dein Körpergewicht nach vorn verlagern. Zur Erinnerung: Wir arbeiten im Yin-Reh ohne Muskelanspannung.
- Mach es dir bequem: Nutze eine Decke unter deinem hinteren und/oder vorderen Knie/Knöchel, um Druckpunkte zu lindern.
- Yogi-Kokon: Erlaube dir einen geschützten Raum und decke dich zu!
Hast du einmal deine individuelle Ausrichtung gefunden, beginne ganz neu, von vorn. Erforsche das Reh mit frischem Blick, mit anderen Hilfsmitteln, und variiere die Haltung. Yoga ist Selbsterforschung und immer auch ein Spiegel unserer Verhaltensmuster im Alltag. Der Weg in die Haltung ist mindestens genauso wichtig wie in der Haltung zu verweilen.
Das kraftvolle Reh: Mrigasana à la Yang
Genug vom Yin-Reh. Jetzt gestalten wir das Reh aktivierend, muskelkräftigend und dynamisch. Aus Yin wird Yang, eine Energie, die dich belebt und fokussiert.
Das aktive Reh
- Starte wie im Yin-Reh: Setze dich aufrecht hin und stelle deine Füße vor dir ab. Verlagere dein Körpergewicht auf die rechte Gesäßhälfte. Lege dein rechtes Schienbein parallel zum kurzen Ende der Matte vor dir. Lege dein linkes Bein so hinter dir ab, dass der linke Oberschenkel in etwa parallel zum vorderen Mattenrand liegt und dein Fuß nach hinten zeigt.
- Flexe jetzt den vorderen Fuß, um die Muskulatur rund um dein Fuß- und Kniegelenk zu aktivieren, und presse die Außenkante in die Matte.
- Komm auf die Fingerspitzen (Cupcake-Hände), schulterweit zum vorderen Bein ausgerichtet.
- Mit der Einatmung zieh den Boden aktiv zu dir heran, richte dich auf. Hebe dein Brustbein, zieh deinen Nabel zur Wirbelsäule und deine Schulterblätter nach hinten und unten. Bleibe hier für 3 bis 5 Atemzüge.
- Verneige dich jetzt mit der Ausatmung vom Becken aus über dein vorderes Bein. Je mehr du deinen Oberkörper über den vorderen Fuß bringst, desto intensiver wird die Dehnung in deiner äußeren Gesäßhälfte.
- Optional: Bringe deinen hinteren Oberschenkel so weit wie möglich zurück und flexe auch hier deinen Fuß. Genieße zusätzlich eine interne Rotation in deiner Hüfte im hinteren Bein.
- Genieße die Hüftparty für 5 bis 10 Atemzüge.
- Richte dich auf, verlagere das Gewicht auf deine rechte Gesäßhälfte und bring das hintere Bein nach vorn.
Das dynamische Reh: „Zahnseide für die Hüfte”
Diese Mobility-Übung ist ganz wunderbar, wenn du deine Hüfte beleben und geschmeidig halten und gleichzeitig Kraft im Core und in den Beinen aufbauen möchtest.
- Starte wie im Yin-Reh.
- Wenn du jetzt mit einem Bein vorn und dem anderen hinten sitzt, flexe die Füße und aktiviere die Muskulatur im Core sowie in den Beinen und der Leistenregion.
- Zur Stabilisierung kannst du deine Hände (eventuell auf Fingerspitzen) links und rechts von dir auf dem Boden platzieren, oder du führst sie in Anjali Mudra vor dein Herz. Drücke die Handflächen aktiv gegeneinander, das aktiviert den Core noch mal und unterstützt so deine Stabilität.
- Jetzt hebst du beide Knie und legst deine Beine auf der anderen Seite ab. Als würdest du das Yin-Reh auf der anderen Seite aufbauen. Dein Oberkörper bleibt dabei aufrecht und nach vorn ausgerichtet (so gut es geht...).
- Auf diese Art bewegst du jetzt deine Beine etwa zehnmal von einer Seite zur anderen. Dabei wirst du wahrscheinlich „wandern“, d.h. dein Po wird nach vorn rutschen. Das ist kein Problem.
- Achte darauf, dass die Kraft für die Bewegung aus Core und Hüftbereich kommt, und dein Rücken nicht belastet ist.
- Spüre in Rückenlage nach. Erlaube deinen Leisten, sich zu entspannen.
Egal, ob du dich für das entspannte Reh oder die aktive Variante entscheidest, jedes Reh passt sich deinem Körper und deinen Bedürfnissen an. Vergiss Perfektion und Ästhetik – im Yoga geht es um Funktion, Wohlgefühl und eine echte Verbindung zu dir selbst. Bleib neugierig und erlaube dir ein Reh mit Tiefgang und Sanftheit.



