Es gibt nur das Jetzt: Was spirituelle Präsenz wirklich bedeutet

Von Katharina Goßmann

Präsenz in a nutshell

  • Präsenz bedeutet, im gegenwärtigen Moment zu verweilen, jenseits von Gedanken, Bewertungen und Ablenkung – sie ist der einzige Zustand, in dem echtes Leben, Lebendigkeit und Verbindung erfahrbar sind.
  • Achtsamkeit und Meditation fördern den Zugang zur Präsenz, indem sie helfen, Gedanken zu beobachten, sinnliche Wahrnehmung zu schulen und emotionale Zustände anzunehmen statt ihnen auszuweichen.
  • Studien zeigen positive Effekte von Präsenz wie Stressreduktion, bessere Emotionsregulation, stärkere Immunabwehr und tiefere Beziehungen – unabhängig von spirituellen Praktiken ist sie ein heilsamer Alltagszustand.

Es gibt nur das Jetzt – alles andere ist eine Geschichte

„Die Gegenwart ist der einzige Ort, an dem das Leben wirklich stattfindet.“

Eckhart Tolle in „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart”

Sei mal ehrlich: Wie oft ist nur dein Körper anwesend, ohne dass du wirklich da bist? Vielleicht sitzt du in einem Café – doch dein Geist ist woanders. Du planst deinen kommenden Urlaub, dabei fällt dir der Streit mit einer Freundin ein, und dann denkst du an ein Café, das dir viel besser gefällt als das hier.

Viele von uns schlafwandeln durch ihr Leben – wir sind in Gedanken, abgelenkt, nicht wirklich anwesend. Wir verhalten uns, als wären Gedanken zu vergangenen oder zukünftigen Ereignissen wichtiger als der aktuelle Moment. Und während wir den (fiktiven) Geschichten unseres Geistes lauschen und wie ein nervöses Häschen von einer zur nächsten springen, wartet die Präsenz – und damit das Leben – in jedem Moment still und geduldig auf uns.

Präsenz = Leben

Präsenz ist der einzige Zustand, in dem du die Magie des Lebens und deine Lebendigkeit wirklich spüren kannst. Puh, da musst du erst mal schlucken, oder?

Präsenz bedeutet, das Hier und Jetzt mit allen Sinnen zu erfahren. Präsenz ist ein Zustand des Seins – ohne Ablenkung durch deinen „Monkey Mind“, dessen Geplapper, Erwartungen und Bewertungen. Präsenz ist das, was gerade ist, in seiner ganzen Tiefe zu fühlen – innen wie außen, ohne Interpretation, ohne Bewertung. Präsenz ist das, was vor den Worten, vor der Wertung kommt. Präsenz findet im wortlosen Wahrnehmen, im reinen Fühlen statt. 

Dein Leben geschieht immer nur im aktuellen Moment. Wenn du über deine Interpretation der Vergangenheit nachdenkst oder mit deinem Geist eine Projektion der Zukunft erschaffst, wenn du die Gegenwart nicht wirklich fühlst, sondern sie – mit deiner durch bisherige Erfahrungen verzerrten Wahrnehmung – interpretierst, läuft das Leben an dir vorbei. 

Stell dir vor, du siehst dir in einem klimatisierten Kinosaal einen mehr oder weniger interessanten Film in 2D an. Das ist dein Leben ohne Präsenz. Und zwar während draußen die Sonne scheint, die Blumenblüten sich öffnen, die Bienen surren, Menschen sich küssen, Kinder lachen – kurz: Das wirkliche Leben passiert. Wer jetzt an Platos Höhlengleichnis denkt, ist auf der richtigen Spur.

Eckart Tolle beschreibt seine erste Begegnung mit wirklicher Präsenz so (Jetzt!, S. 16):

„Ich wurde vom Zwitschern eines Vogels draußen vor dem Fenster geweckt. Nie zuvor hatte ich einen solchen Klang gehört. Meine Augen waren immer noch geschlossen und ich sah das Bild eines kostbaren Diamanten. Ja, wenn ein Diamant ein Geräusch machen könnte, dann würde sich das so anhören. Ich öffnete meine Augen. Das erste Licht der Morgendämmerung sickerte durch die Vorhänge. (...) Diese weiche Helligkeit, die durch die Vorhänge sickerte, war Liebe selbst. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich stand auf und ging im Zimmer umher. Ich erkannte das Zimmer, und doch wusste ich, dass ich nie zuvor wirklich gesehen hatte. Alles war frisch und unberührt, als ob es gerade erst entstanden wäre. Ich nahm einige Dinge in die Hand, einen Bleistift, eine leere Flasche, voll Wunder über die Schönheit und Lebendigkeit von allem.”

Was hindert uns daran, präsent zu sein?

Wenn Präsenz uns so viel Lebendigkeit, Magie und Verbindung schenkt, warum sind wir dann so selten präsent?

Das moderne Leben und seine Ablenkungen

Präsenz findet in uns statt, in der Ruhe, der Stille, in der Verbindung. Unsere Zeit verführt uns aber dazu, uns im Außen zu verlieren. Von überall werden wir mit Reizen, Nachrichten, Botschaften beschossen – wir sollen schneller sein, besser, erfolgreicher, schöner, überall dabei, dürfen nichts verpassen. Die Plings und Likes unserer Handys machen uns (Dopamin-)süchtig. Wir wollen immer mehr, in immer schnellerer Abfolge. Die schnöde Realität kann da scheinbar nicht mithalten. Im Vergleich zur KI-generierten Instagram-Traum-Realität erscheint sie glanzlos. Und so klicken und kaufen und posten wir uns in eine einsame, kalte Leere – die wir dann mit noch mehr Scrollen füllen.

Haben wir Angst vor dem Leben?

Zudem scheint es, als hätten wir kollektiv verlernt, unsere Gefühle wahrzunehmen und zuzulassen. Wir verdrängen und vermeiden sie, als würde eine reale Gefahr von ihnen ausgehen – statt sie anzunehmen, ihre Botschaft zu hören und sie durch den Körper fließen zu lassen.

Vielleicht fürchten wir aber nicht nur unsere Gefühle. Sondern alles, was das Leben wirklich ausmacht – die Unkontrollierbarkeit und Unplanbarkeit, den ewigen Wandel, die tiefe Liebe, die uns Verlust und Trennung fürchten lässt, die Angst vor unserer Sterblichkeit. Weil uns als Gesellschaft die Fähigkeit abhanden gekommen ist, miteinander verbunden durch dieses Leben zu gehen, uns zu stützen und zu halten, wenn es schwierig wird.

Dabei gibt es kaum eine effektive Art, mit Gefühlen und den Herausforderungen des Lebens umzugehen, als Präsenz. Denn wenn wir präsent sind, denken wir nicht darüber nach, ob diese Liebe endet oder wie es sein wird, wenn wir alt und krank sind. Wir bewerten unsere Trauer, unser Glück nicht. Wir sind einfach nur. Vielleicht sind wir Liebe, vielleicht sind wir Wut, in jedem Fall aber sind wir lebendig. 


Disclaimer: Dein Geist ist dein Freund – wenn du ihn richtig nutzt

Unser Geist ist ein wertvolles Instrument, um Urlaube zu buchen, neue Unterhosen zu bestellen, wenn die alten Löcher bekommen, oder einen fehlerfreien Lebenslauf zu erstellen.

In vielen anderen Kontexten ist der Geist jedoch weniger wichtig als wir in der westlichen Kultur oft annehmen. Die meisten menschlichen Reaktionen und Entscheidungen basieren weniger auf dem, was wir wissen, planen oder überlegen – und viel mehr auf unseren Gefühlen.

Hast du schon einmal versucht, eine wichtige Entscheidung nur auf der Grundlage rationaler Überlegungen zu treffen? Dann weißt du, was ich meine. Wäre ich nur nach Zahlen und Fakten gegangen, hätte ich weder meinen Mann geheiratet noch Kinder bekommen. Und doch gibt es nichts was mich glücklicher macht als meine Familie.

Kurz gesagt: Wir sind so sehr auf unseren Geist fixiert, dass wir ihm zu viel Raum und Bedeutung in unserem Leben einräumen. Wenn du deinen Geist für das nutzt, wofür er gemacht ist – um zu organisieren und dich vor Gefahren zu schützen – und ihn ansonsten so oft wie möglich ignorierst, bist du der Präsenz schon ein großes Stück näher gekommen.


Meditationsprogramm: Meditation lernen mit Timo Wahl


Was haben Meditation und Achtsamkeit mit Präsenz zu tun?

Meditation – beobachte deine Gedanken

Früher dachte ich, dass ich beim Meditieren aufhören müsste zu denken. Nach vielen Jahren der Praxis und Gesprächen mit erfahrenen Meditierenden kann ich sagen: Das wird wohl nicht passieren. Was wir jedoch wunderbar beim Meditieren üben können, ist, unseren Gedanken weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Wir lernen sie „wie Wolken am Himmel vorbeiziehen zu lassen” (falls du diese beliebte Anleitung noch nicht gehört hast). Und lassen uns irgendwann nicht mehr von den Geschichten des Geistes ablenken, mitreißen oder in Emotionen verwickeln.

Die Herausforderung der Meditation besteht darin, immer wieder Gedanken wahrzunehmen, vielleicht kurz mit ihnen mitzulaufen und sich dann von ihnen zu lösen, um zurück zum Fokus und zur Konzentration zu kommen und wieder zur teilnahmslosen Beobachter:in zu werden. Mit jeder Meditation wird das leichter. Und das ist eine wunderbare Vorübung, um sich der Präsenz anzunähern.


Lesetipp: Lese hier alles über Meditation (mit Infografik)


Achtsamkeit – die Praxis der Präsenz

„Achtsamkeit bedeutet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: Bewusst, im gegenwärtigen Moment und ohne zu urteilen.“

Jon Kabat-Zinn, Begründer der MBSR-Methode, in „Gesund durch Meditation

Oprah Winfrey fragte den weisen Lehrer Thich Nhat Hanh mal, wie oft er meditiere. Seine Antwort war: „Immer.“

Achtsamkeit ist eine Praxis, die uns dazu anhält, immer wieder achtsam den Moment wahrzunehmen und so in die Präsenz zu kommen. Wenn du kurz innehältst, aufhörst zu funktionieren und tief einatmest, deinen Kaffee schmeckst oder deine Füße auf dem Boden spürst, trittst du aus dem Autopilot-Modus heraus und kommst in Kontakt mit dem, was gerade in dir und um dich herum ist. Achtsamkeit ist also die direkte Methode, um mehr Präsenz in dein Leben zu bringen. 

Lesetipp: Wenn du mehr über Achtsamkeit erfahren willst, lies unseren ausführlichen Artikel!


Probier es selbst aus mit dieser Meditation von Nina Heitmann für Achtsamkeit und Präsenz:


Achtung: Meditation und Achtsamkeit können helfen, den Zustand der Präsenz schneller und häufiger zu erreichen. Vermeide es, sie als deine „spirituelle Praxis“ in den Mittelpunkt zu stellen und damit dein Ego zu stärken. Es geht nicht darum, welche Techniken du beherrschst oder wie lange du täglich meditierst. Lass deine spirituelle Praxis nicht zur Ablenkung vom Jetzt werden – sondern gib dich dem Moment hin.


Warum ist Präsenz so heilsam?

Zahlreiche Studien belegen heute, was spirituelle Lehrer:innen schon lange wissen: Präsenz tut uns gut – körperlich, emotional und mental.

Einige wissenschaftlich belegte Effekte von Achtsamkeit und Präsenz:

  • Reduzierter Stress: Eine Metastudie zeigte, dass Achtsamkeitstrainings (wie MBSR) signifikant zur Senkung von Stress, Angst und Depression beitragen (Goyal et al., JAMA Internal Medicine, 2014). Viele chronisch Kranke erhalten heute Methoden wie MBSR als Teil ihrer Behandlung.
  • Verbesserte Selbstregulation: Wer präsent ist, kann bewusst mit schwierigen Emotionen umgehen. Statt automatisch zu reagieren, entsteht innerer Raum für Klarheit und Mitgefühl. So kannst du dysfunktionale Muster erkennen und anfangen, dein Leben nach deinen Werten zu gestalten.
  • Mehr Verbundenheit: Präsenz verbessert Beziehungen, weil wir anderen wirklich zuhören, mitfühlen und für sie da sind. In einer Welt, in der viele nach Verbindung suchen, ist es das größte Geschenk, dem Gegenüber ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken – ohne Handy oder Instagram-Beweisfoto.
  • Stärkung des Immunsystems: Präsente Menschen haben eine bessere Immunantwort, z. B. nach Impfungen oder bei chronischen Entzündungen (Davidson & Kabat-Zinn, Psychosomatic Medicine, 2003).

Spirituelle Lehrer:innen der Präsenz

Viele spirituelle Traditionen und Lehrer:innen weltweit haben Präsenz in den Mittelpunkt ihrer Lehren gestellt.

  • Eckhart Tolle nennt das Hier und Jetzt „das Tor zur inneren Freiheit“. Für ihn ist Präsenz der Zustand jenseits des Denkens – still, wach und heilend.
  • Thich Nhat Hanh (1926-2022) lehrte, wie Achtsamkeit in jedem Moment geübt werden kann – beim Gehen, Atmen, Spülen. Seine einfache Anleitung: „Atme ich ein, weiß ich: Ich atme ein. Atme ich aus, weiß ich: Ich atme aus.“
  • Tara Brach, Psychologin und Meditationslehrerin, beschreibt Präsenz als „radikale Annahme des Jetzt“. Sie verbindet Achtsamkeit mit Mitgefühl.
  • Jon Kabat-Zinn, ein Pionier der Achtsamkeitsforschung, entwickelte die Methode der „Mindfulness-Based Stress Reduction” (MBSR, übersetzt: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion) als Brücke zwischen östlicher Weisheit und westlicher Wissenschaft.

Wie du Präsenz im Alltag kultivieren kannst

Um präsent zu sein, musst du nicht nach Indien reisen oder teure Achtsamkeitskurse besuchen. Präsenz kannst du in jeder Sekunde und Situation üben.

Je häufiger es dir gelingt, den aktuellen Moment wahrzunehmen, desto leichter wird es dir fallen. Steter Tropfen höhlt den Stein – und in Bezug auf Präsenz ist das tatsächlich viel effektiver als große, laute Maßnahmen.

Tipps für mehr Präsenz im Alltag

Lassen wir Meister Tolle noch mal zu Wort kommen mit einem Tipp für mehr Präsenz (aus Jetzt!, S. 35):

„Mach dir ganz einfach intensiv den gegenwärtigen Moment bewusst.(...) Auf diese Weise löst du deine Aufmerksamkeit von den Aktivitäten des Verstandes und schaffst eine Lücke (...), in der du höchst wachsam und aufmerksam bist, aber nicht denkst. Das ist die Essenz der Meditation.” 

Tips für mehr Präsenz in akuten Situationen

Wenn du in einer akuten Situation präsenter werden möchtest, rät Eckart Tolle außerdem zu Folgendem:

1. Nutze alltägliche Routine-Situationen

Auf den Bus warten, Wäsche aufhängen, Geschirr abspülen – statt dein Handy herauszuholen oder einen Podcast zu hören, nutze diese „langweiligen“ Tätigkeiten als Möglichkeit, Präsenz zu erfahren. Du hast ja sowieso gerade nichts Wichtiges zu tun.

2. Spüre deinen Körper und die Sinneseindrücke

In solchen Situationen kannst du dich auf deinen Körper konzentrieren – was fühlst, riechst, hörst du? Versuche, dich in die Sinnlichkeit dieser Eindrücke zu vertiefen, ohne sie sofort zu bewerten.

3. Konzentriere dich auf deinen Atem

Der Atem ist dein Anker in die Gegenwart. Wenn du bewusst den Fluss deines Atems wahrnimmst, entspannst du dich und verbindest dich ganz natürlich mit dem Moment.

Merksatz: Sobald du in deinen Gedanken bist, bist du nicht mehr präsent. Präsenz ist die sinnliche Wahrnehmung von allem, was gerade ist, bevor die Gedanken und Bewertungen einsetzen.

Tipps für mehr Präsenz im Alltag

Wenn du allgemein mehr Präsenz in deinen Alltag bringen willst, können die folgenden Tipps helfen:

1. Weniger Ablenkung, mehr Bewusstheit

Alles, was dich von der direkten Erfahrung der Umgebung ablenkt, verhindert Präsenz. In unserer Gesellschaft ist es normal, beim Gehen auf das Handy zu schauen oder im Zug einen Film zu streamen. Mach einfach nicht mit. 

2. Räume bewusst Raum für Stille ein

Wie wäre es, wenn du täglich für eine bestimmte Zeit einfach nichts tust? Keine Meditation, kein Sonnen, keine Traumreise – einfach nichts. In diesen Momenten wird dir oft plötzlich viel klarer, was du wirklich brauchst oder fühlst.

3. Verbindung durch Präsenz in Begegnungen

Wenn du mit jemandem sprichst, sei wirklich da. Schau hin, hör zu, nimm wahr, ohne innerlich schon beim nächsten Gedanken zu sein.

4. Gefühle spüren, ohne sie zu unterdrücken

Präsenz bedeutet nicht, immer „positiv“ zu sein. Sie bedeutet, ehrlich zu fühlen. Was du fühlst, darf da sein – gerade das macht dich lebendig.


Fazit: Präsenz ist keine Technik – sie ist ein innerer Zustand

Du kannst Präsenz nicht „machen“, aber du kannst dich ihr öffnen. Mit Achtsamkeit, mit Stille, mit ehrlicher Hinwendung zu dir selbst. Je öfter du innehältst, desto mehr erkennst du: Du brauchst nichts tun, um ganz da zu sein. Du bist du es längst.


Quellen:

Katharina Goßmann
Katharina Goßmann

Katharina ist Mutter, Yogalehrerin und Psychologin. Bei YogaEasy ist sie das Herz der Redaktion und schreibt über Yoga, wahres Glück und Heilung. Ihre Artikel werden unter anderem im „Yoga Journal” und in der „Happy Way” veröffentlicht.